Als Fotograf entstehen oft die besten Fotos, weil man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Genau so erging es dem niederländischen Fotografen Anton Corbijn, der aus den Zwängen seiner Kleinstadt in Südholland in die Musikwelt flüchtete. Heute ist er berühmt für außergewöhnliche Portraits und langjährige Zusammenarbeiten mit Bands wie Depeche Mode oder U2, deren visuelle Identität er mit prägte.
Im Rahmen der Triennale der Photographie Hamburg zeigte das Bucerius Kunst Forum von 7.6.2018 bis zum 6.1.2019 eine umfangreiche Auswahl seiner Arbeiten aus 40 Jahren. Außerdem stand seine autobiographische Serie a. somebody im Mittelpunkt der Ausstellung am Rathausmarkt.
Anton Corbijn: The Living and The Dead – Teil 1 der Ausstellung
Im Erdgeschoss, im ersten Teil der Ausstellung im Bucerius Kunst Forum, hingen Musikerportraits aus fünf verschiedenen Serien. Serien, die 1974 bis 2013 entstanden und so einen Einblick in Anton Corbijns Bildsprache geben. Manche Serien sind später erst so zusammengestellt worden, andere Serien entstanden von Anfang an konzeptionell.
FAMOUZ – Miles Davis
Die Zusammenstellung im Bucerius Kunst Forum scheint im ersten Moment willkürlich. Nicht chronologisch. Aber doch irgendwie passend.
Vor allem aber die Wand mit Miles Davis aus der Serie FAMOUZ* in der Mitte zieht mich magisch an. Der stark geweitete Blick mit Pupillen so weit, dass fast keine Iris mehr zu sehen ist sowie die harten Kontraste an den Händen des nicht einmal 60-jährigen Trompeters (1985, Montréal) wirken fast hypnotisch auf mich. Eingerahmt wird Miles von einem Bild von Herbert Grönemeyer (1992) sowie von Frank Zappa (1991).
Beide Bilder stammen aus der Serie STAR TRAK, die zwischen 1989 und 1999 entstand. Die quadratischen Abzüge vom 6×6 cm* Hasselblad-Mittelformat-Negativ sind eher aufgrund des Lith-Entwickler in Sepia und Tiefschwarz gehalten und wirken viel heller als andere Fotos von Corbijn – ein starker Kontrast zum sehr dunklen Miles-Davis-Portrait und deswegen aber so faszinierend und gut gehangen.
Vielleicht lag es an den sich verändernden Lebensumständen von Anton Corbijn, als er 1989 nach Kalifornien zog. Auch porträtierte er nun nicht mehr nur ausschließlich Musiker, sondern auch Models, Schauspieler und Regisseure uva. fanden den Weg vor seine Kamera.
Von Südholland zu einem der angesagtesten Fotografen
Doch wie kam es überhaupt zu dieser außergewöhnlichen Karriere? Wie kommt ein Junge aus einem pastoralen Zuhause in einem kleinen Ort südlich von Rotterdam nach Kalifornien und wird zu einem der angesagtesten Fotografen und Regisseure? Zuerst war da als Jugendlicher die Begeisterung für Rock und Pop Anfang der 1970er Jahre. Dann entdeckte Anton Corbijn, dass die Fotografie ihn den Zugang zur faszinierenden Musikerwelt eröffnen konnte – und die Flucht aus dem beengten Heimatort. Doch die Fotografenausbildung nach seiner Schulzeit brach er ab und entschloss sich Ende 1976, freier Fotograf zu werden.
Aus diesem „technischen Handicap“, wie es gerne bezeichnet wird, entwickelte er aber seine persönliche Bildsprache – starke Kontraste, untypische Portraitperspektiven und Bildausschnitte, düstere Stimmung, viel Korn, gerne auch mal unscharf und das Gesicht des Portraitierten im Schatten liegend, um den Künstler nicht direkt zu erkennen. Ein Punk der Fotografie, der sich in der Punkbewegung der 1970er wohl fühlte und 1977 als eines seiner ersten Fotos mit einer Kleinbildkamera ein ikonisches Portrait von Johnny Rotten, Sänger der Punkband Sex Pistols in Amsterdam aufnahm.
Dinge zu tun ist wichtiger, als sie gut tun zu können.
Dank Elvis zum New Musical Express
Doch lange hielt es Anton Corbijn nicht in den Niederlanden. 1979 ging er nach London und bewarb sich mit einem ungewöhnlichen Bild von Elvis Costello, welches auch in „The Living and The Dead“ zu sehen ist, beim New Musical Express, den er von 1980 bis 1985 bildlich stark prägte. Dabei entstanden die ersten engen Verbindungen zu Musikern, die ihn auch nach seiner Zeit beim New Musical Express direkt beauftragten.
Anton Cobijn, Art & Creative Director
Doch schoss er nicht nur Portraits, sondern inszenierte Bands wie Depeche Mode und U2. Anton Corbijn schärfte ihr Profil als Band, drehte vermehrt auch Musikvideos, produzierte Albumcovers und wurde schließlich ein Art Director der Bands, der vom Logo bis zur Bühnengestaltung ganze visuelle Identitäten erschuf. Dies verdeutlicht auch noch einmal der 18 minütige Film über Anton Corbijn, der im zweiten Stock gezeigt wird und in dem Künstler wie Bono (U2), Dave Gahan (Depeche Mode) und Michael Stipe (R.E.M.) zu Wort kommen, die gerade dieser visuellen Identität auch viel ihres Images zu verdanken haben.
„Anton Corbijn ist das fünfte Bandmitglied, das ein unhörbares Instrument spielt.“
– Wim Wenders im Vorwort zu „U2&I“*
Joy Division
Aus dieser Anfangszeit stammt die Serie FAMOUZ (1974-1988)*, welches auch der Titel des ersten Buches ist, das 1989 erschien. Eines der bedeutendsten Bilder und auch prägend für Corbijns Erfolg ist sicherlich das Bild von Joy Division auf der Treppe in einer U-Bahnstation nur wenige Wochen vor dem tragischen Selbstmord des Sängers Ian Curtis im Alter von 23 Jahren.
Hier schließt sich auch wieder der Kreis zum Miles-Davis-Protrait in der Mitte des Raumes. Ein weiterer Rahmen um Miles bilden große vertikale Bilder u.a. eines in sich versunkenen Ian Curtis, die Beine überkreuzt, eine Zigarette in der rechten Hand, mit der linken Hand die Augen haltend.
Die Entwicklung der Post-Punk-Band, aus der nach dem Selbstmord die New-Wave-/Post-Punk-Band New Order entstand, prägte Corbijn anscheinend nachhaltig. 2007 drehte er u.a. mit Alexandra Maria Lara seinen ersten Spielfilm „Control“, der sich um das tragische Leben von Ian Curtis* dreht.
Welches Bild gehört zu welcher Serie?
Viele Fotos im Erdgeschoss kann ich auf einem Blick nicht einer bestimmten Serie zuordnen. Deutlich unterscheiden sich nur die zuvor erwähnte Reihe STAR TRAK und 33 STILL LIVES, die zwischen 1997 und 1999 entstand. Beide Serien stehen im starken Kontrast zueinander. STAR TRAK in warmen Brauntönen, 33 STILL LIVES im kalten Blau* und mit konzeptionellem Ansatz. Dazu verwendete Corbijn Polapan-Film (ähnlich einem Polaroid, nur mit schwarz-weißem Diapositiv), der über Zwischennegative mit einem Blaufilter abgezogen und großformatig auf Aluminium hinter Plexiglas gedruckt wurde. Die Fotos sind wie die typischen Paparazzifotos der Zeit konzipiert und untypisch mit Blitz fotografiert.
Mein Favorit: STAR TRAK
Persönlich gefällt mir STAR TRAK dennoch am Besten. Auch wenn es noch eine interessante Fotos aus INWARDS AND OUTWARDS (1996-2011)* sowie 1-2-3-4 (1977-2013)* zu entdecken gibt. Es liegt dabei weniger an der Farbigkeit der Fotos, sondern an den Charakteren, die Anton Corbijn mit seiner Hasselblad eingefangen hat.
Vor allem Johnny Cash und ein Pavarotti, der wie ein Rockstar aussieht, sind hier meine Favoriten und zeigen deutlich die Bildsprache des niederländischen Fotografen. Doch zum Lachen gebracht hat mich ein Foto von Mick Jagger, verkleidet als Dame (1996). Fast zum Weinen das traurig-schöne Bild von David Bowie (1980), das wie ein Vorbote auf sein Musical „Lazarus“ auf mich wirkt.
Aber auch die Viererreihe von Kraftwerk, die bereits 1981 in Barcelona entstand, fesselt mich. Es sind keine Fotos der Musiker, sondern ihrer Dummies, die er bewusst als Metapher für deren Musik (z.B. „Das Modell“) einsetzt. Es gibt von jedem Dummy nur eine Aufnahme und erst Jahre später realisierte Corbijn, wie stark die Wirkung als Serie ist. Auch ich bin eingenommen davon und kann mich vor dem Lesen der Bildunterschrift nicht des Eindrucks erwehren, dass dies auch echt Musiker sein könnten.
The Living and The Dead, Teil 2
Beeindruckend geht es aber auch im zweiten Stockwerk des Bucerius Kunst Forums weiter. Zwei freie Serien sind zu sehen, die eigentlich völlig untypisch für Anton Corbijn sind, dennoch aber viele Einblicke in seinen Werdegang und seinen familiären Hintergrund offenbaren.
a. somebody
Im Vordergrund steht die Serie a. somebody (2001-2002), in der sich Corbijn als Musiker verkleidet, die er zum Teil schon fotografiert hatte, aber zum Zeitpunkt der Reihe bereits tot sind. Idole seiner Jugend und Wegbereiter seiner eigenen Karriere. Die Farbfotos sind am Ort seiner Kindheit – Strijen, Niederlande – entstanden und wirken im ersten Moment wie unscharfe Schnappschüsse aus den Familienalben der Musiker. Da sieht man Bob Marley mit Fußball oder Kurt Cobain auf einer Parkbank.
Die Reihe entstand, als der Bürgermeister des Ortes den mittlerweile berühmten Sohn des Dorfes zu einer Ausstellung einlud und Anton Corbijn sich darauf hin begann, mit seiner Vergangenheit auseinander zu setzen sowie sich selbst und seine Passion Musiker bzw. Musikwelt zu reflektieren. Auch setzt sich die Serie mit der Geschichte seiner Familie und der Obsession seine Eltern für das Leben nach dem Tod auseinander. Was wiederum nicht untypisch für den Haushalt eines protestantischen Pastors ist, in dem Corbijn aufwuchs.
Zusätzlich zu den Farbfotos in der Welt seiner Kindheit entstanden Schwarz-Weiß-Fotos im Studio in gleicher Verkleidung. Teilweise sehr unbeholfen in der Maskierung – so ist das Gesicht für Bob Marley und Jimi Hendrix schwarz gefärbt (was heutzutage sicherlich auch nicht mehr ginge, „Blackfacing“), der Rest des Oberkörpers bleibt weißt. Corbijn interpretiert es als die Anstrengungen des „unbedingt dazugehören Wollens“. a. somebody verdeutlicht die Suche nach dem Sinn und der Bedeutung seines Lebens.*
Cemeteries
Ergänzt wird a. somebody durch eine außergewöhnliche Reihe, die so gar nicht zu Anton Corbijn passen mag und auch nie zuvor veröffentlicht wurde. Dabei lässt Cemeteries aus den frühen 1980er Jahren eine ähnliche Motivation erkennen. Corbijn bereiste 1982/83 katholische Friedhöfe in Norditalien und Südfrankreich. Auf seinen Fotos zeigt er keine Menschen, aber die typische Bildsprache seiner Schwarz-Weiß-Portraits, die besonders zum Vorschein zu kommen scheint. Die von ihm aufgenommenen Grabmonumente wirken so oft lebendig – eine Verbildlichung und Personifikation von Trauer und Tod.
Warum solltest Du Dir „The Living und The Dead“ von Anton Corbijn ansehen?
The Living and The Dead ist eine spannende Reise durch das rund 40-jährige Werk des niederländischen Fotografen Anton Corbijn und eine Reise in meine eigene musikalische Vergangenheit mit ikonischen Fotos von Joy Division, Herbert Grönemeyer, Tom Waits, Joni Mitchell, The Rolling Stones, Miles Davis, Pavarotti, Lenny Kravitz, Johnny Rotten, Henry Rollins, James Brown, Nick Cave, David Bowie, Kraftwerk und so vielen mehr.
Lohnenswert ist vor allem auch der Film zur Ausstellung im zweiten Teil der Ausstellung, um zu verstehen, dass Anton Corbijn eben nicht ein Musikfotograf ist, sondern ein kreativer Inszenierer für ungewöhnliche Portraits, der eben über die Musik seinen Weg in die Fotografie fand.
Der sehr lohnenswerte Ausstellungskatalog* ist übrigens im renommierten Schirmer/Mosel-Verlag erschienen:
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Lese- & Fototipps
- Musermeku – Anton Corbijn: Die Lebenden und die Toten
- Vintage Everyday – 30 Extraordinary Black and White Photos of Celebrities Taken by Anton Corbijn
- Artsy – Anton Corbijn
- U2Tour.de – Anton Johannes Gerrit Corbijn van Willenswaard, Funktion: U2s Haus- und Hoffotograf und Regisseur
Deine Fotos in diesem Artikel sind aber auch sehr gut!
Ich danke Dir, Dr. Basty!
Habe es versucht, spannend zu gestalten und nicht zu viel zu verraten.